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3. Kapitel

Überraschend tödliche Kräfte, problematische Tarots und unerwartet nahe Hornissen sind nur einige Elemente dieses Kapitels

 

„Ich weiß nicht, Herr Professor, warum sie das Frühstück selbst bei Regen außerhalb des Wagens einnehmen müssen.“

„Und ich weiß nicht, liebe Au, warum es so schwer zu verstehen ist, dass ich vermeiden möchte, die Geräte mit Krümeln zu verunreinigen.“

„Aber sie essen doch auch Kekse während der Arbeit.“

„Das ist etwas ganz Anderes und hat nichts mit dem Frühstück zu tun.“

Ausnahmsweise wurde Au einmal nicht rot, weil sie peinlich berührt war, sondern weil sie unerwartet wütend wurde.

„Außerdem solltest du keinen Grund haben, dich zu beschweren. Bei Tageslicht lässt es sich viel besser Zeichnen.“

„Ich zeichne heute doch gar nicht.“

„Ich meinte das ja auch im Allgemeinen.“

Die junge Frau erwiderte nichts. Stattdessen legte sie die nächste Karte vor sich aus. Das Motiv hatte sie selbst gezeichnet, wie alle in dem Kartensatz. Sie war der festen Überzeugung, dass auf diese Weise ihre Verbindung zu den Karten viel tiefer in ihrer Seele verwurzelt war und ihren Lesungen damit größere Genauigkeit verliehen wurde. Cleene und Fidster hingegen glaubten, dass es ihr Freude bereitete, sich ihre scheußlichen Bilder anzusehen. Sie konnte gut Zeichnen und Malen, obwohl man dies bei einem ersten, flüchtigen Blick kaum vermutete. Zum Beispiel wirkte ihr Ritter der Schwerter bei einer flüchtigen Betrachtung wie eine Ansammlung an Strichen und glänzenden Punkten, die in alle Richtungen über das Bild verteilt waren. Wenn man jedoch genauer hinschaute, erkannte man eine Gestalt, deren grauenvoll verzerrter Körper aus Schwertern bestand, die alle sauber ausgeführt waren und aussahen, als würden sie von einer unsichtbaren Lichtquelle zum Leuchten gebracht werden.

Auf den Kelchkarten waren Schädel noch die zivilisiertesten Gefäße und über die Großen Arkana sprach man besser nicht.

Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, wenigstens einmal in der Woche ihre Zukunft aus den Karten zu lesen, auch wenn niemand ihrem Orakel Glauben schenkte, was nicht verwunderlich war, weil ihre Schlüsse aus den Karten entweder sehr vage ausfielen oder schlicht falsch waren.

Am heutigen Tag hatte sie sich Zeit gelassen und ein großes Rad gelegt, sehr zum Unmut des Professors, der sich dadurch an den Rand des Tisches verdrängt fand. Au zog eine gewisse Befriedigung aus dem Murren des Professors, weil keiner von ihnen ihm bisher das unmögliche Verhalten vor zwei Tagen verziehen hatte.

Derzeit waren die gelegten Karten unspektakulär, wenn man nicht so genau auf die eigentlichen Bilder achtete. Mit einer Ausnahme hatte sie nur geringere Arkana gelegt. Nur der Turm kündete von größerem. Sie zog ihn jedoch überraschend häufig, weswegen sie ihm kaum noch Beachtung schenkte. Er stand für gewöhnlich für Zerstörung und mit Cleene und Fidster war die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich eine in diese Richtung ausgesprochene Vorhersage bewahrheitete.

Sie kreuzte die sieben der Stäbe über den Turm. Das war unerwartet aber sehr interessant. Die Zerstörung schien in diesem Fall erstrebenswert zu sein. Mal etwas neues nach den ganzen unbeabsichtigten Katastrophen, die sie ansonsten anrichteten.

Als letztes legte sie die Bienenkönigin, eine monströse Scheußlichkeit, die man hauptsächlich an den schwarzen und gelben Streifen erkannte. Und natürlich daran, dass der Titel der Karte in dem Kästchen am unteren Ende stand.

Komisch. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals eine Bienenkönigin gemalt zu haben. Aber sie kannte auch niemanden, der auf ihre Weise malte. Außerdem gefiel ihr die Karte, weswegen sie die das Motiv nur bewundernd betrachtete.

Sorgen machte sie sich nur, weil sie noch nie gehört hatte, dass ein Tarot eine Bienenkönigin enthalten hätte.

 

Vielleicht wären die beiden Pylonisten vorsichtiger gewesen, wenn sie von Aus Orakel gewusst hätten, die Wahrscheinlichkeit und bisherige Erfahrungen sprachen jedoch dagegen.

Sie kundschaften an diesem Morgen einen weiteren Abschnitt des vor ihnen liegenden Weges aus, suchten nach unsicheren Pfaden, guten Stellen, auf denen ein Pylon aufgestellt werden konnte, und Anzeichen für Räuber, Zollposten und Vollpfosten – was in ihren Augen nahezu dasselbe war.

Wie immer auf solchen Missionen waren sie mit der üblichen Ausrüstung ausgestattet: lange Stäbe zum ertasten des Weges, einem Handspiegel, einem Massesimulator, ihren Tagesrationen, einem akustischem Entfernungsmesser, Kurzschwertern, Landkarten, Notizblöcken, Spaten, einem Hammer, einem Chaosmeißel, einem Ordnungsmeißel, Schutzbrillen, dicken Schutzhandschuhen und den Nachtsichtbrille. Die ÖfAFödaBI hatte die gesamte Ausrüstung standardisiert und große Sorgfalt auf Qualität und Tragekomfort gelegt. Trotzdem trug jeder Pylonist seine Ausrüstung auf seine eigene Weise, die den Federschubsern viele schriftliche Anweisungen abgerungen hatte, die jedoch sämtlich ignoriert wurden.

Derzeit testeten die beiden einen Felsen aus, der auf einem ungewöhnlich gleichförmigen Hügel stand, inmitten einer Grasebene. Es war der dritte Stellplatz, den sie an diesem Tag überprüften. Einer würde die Verbindung zur vorherigen Pylone herstellen und einer hatte sich als unbrauchbar herausgestellt.

Dieser Hügel jedoch war ein natürlicher Stellplatz, wie sie ihn nur selten vorfanden. Er überblickte eine weite, freie Fläche und konnte seine Verbindungen in mehrere Richtungen aufbauen. Für gewöhnlich konnte man bei Hügeln auch von vorne herein davon ausgehen, dass sie die nötige Stabilität besaßen, um dem Gewicht eines ausgewachsenen Pylonen standhalten zu können. Immerhin konnten sie schlechterdings aus sumpfigem Boden bestehen. Cleene und Fidster konnten gar nicht mehr zählen, wie viel Zeit und Gerätschaften sie in Mooren und Sümpfen versenkt hatten, nur weil jeder potentielle Ort überprüft werden musste. Erst sehr spät hatten sie irgendwann die Genehmigung von der ÖfAFödaBI erhalten, solche Orte umgehen zu dürfen. Allerdings war dieser Erlaubnis ein langer bürokratischer Prozess vorausgegangen, der nicht weniger als 23 Eingaben des Professors erforderlich gemacht hatte.

Daher war ihnen jeder Hügel willkommen und einer mit einem Felsbrocken darauf noch einmal doppelt. Natürlich war es möglich, dass sie auf ein vergessenes Grab gestoßen waren. Aber die Erfahrung hatte gelehrt, dass die vorzeitlichen Bestattungsunternehmer ausgesprochen gut darin gewesen waren, große Steine durch die Gegend zu schieben, was ihre Bauwerke nur zu umso begehrteren Standorten machte.

Derzeit bereiteten die beiden den Massetester vor. Dazu hatte Cleene auf dem Felsbrocken mit dem Chaosmeißel die Oberfläche geglättet. Sie liebte es, mit dem unförmigen Gerät zu arbeiten, welches wilde Magie über zwei Trichter in seine kristallene Spitze kanalisierte. Mit zwei Griffen an der Seite hielt man es fest und presste es gegen die Oberfläche, die man zu pulverisieren beabsichtigte. Wenn der Benutzer geschickt genug war, flogen für ein paar Sekunden gefährliche Splitter in alle Richtungen und man erhielt in null-komma-nix eine mehr oder weniger gerade Oberfläche. Fidster legte sich zu solchen Gelegenheiten flach auf den Boden oder stellte sich einfach hinter seine Kollegin, wenn er ausreichend Vorwarnung erhalten hatte. Sollte sich der Platz als ungeeignet erweisen, sah Anweisung ÖfAFödaBI-PA-721 (Ordnung am Arbeitsplatz), Abschnitt D7, vor, dass sie den Ordnungsmeißel verwendeten, um ihre Zerstörung wieder Rückgängig zu machen. Dies fiel wiederum Fidster zu, und Cleene brachte sich in Sicherheit, wann immer er mit dem Gerät die Bruchstücke heransaugte, um den Originalzustand wieder herzustellen. Sie hatten den Ordnungsmeißel bisher genau zweimal verwendet: einmal, um die nötige Erfahrung zu seiner Verwendung zu sammeln, ein zweites Mal, um festzustellen, dass sie ihn nicht mehr verwenden wollten.

Cleene grinste zufrieden, als sie den Chaosmeißel ausschaltete und gab Fidster damit den Weg frei, den Massetester einzusetzen. Fidster legte die zwei Spannen durchmessende Plate auf den Fels, aktivierte den Empfänger des Gerätes mit dem Kippschalter und entfernte sich zwei Schritt vom Fels. Cleene stellte sich neben ihn und wartete voller Vorfreude auf die Verwandlung, der sich die Platte gleich unterziehen würde. Solange keine Magie durch den Massetester geleitet wurde, war das Nullexistium (Nx im Periodensystem der magischen Elemente), aus dem sie gefertigt war, matt-grau und fast abstoßend zu betrachten. Sobald Fidster jedoch den Regler auf seiner Fernbedienung drehte, begann es zu glänzen und in allen möglichen Schwarztönen zu leuchten. Es entstand ein Regenbogen aus Nichtfarbe, der sich langsam immer weiter über dem Gerät erhob.

„Halber Pylon. Siehst du irgendwelche Veränderungen?“

„Nee, sieht noch alles gut aus.“

„Ich meine nicht den Bogen, sondern den Boden.“

„Haha, sehr witzig. Nein, da ist nichts zu sehen.“

„Dann erhöhe ich jetzt auf ein Pylon.“

Der Bogen wurde größer und Cleene blickte nach oben zur spitze, wo das Schwarz am stärksten fluktuierte. Irgendetwas darin sprach zu ihr.

„Veränderungen?“

„… Nein, alles gut.“

„Dann die Sicherheitsbelastung.“ Fidster drehte, der Bogen wurde größer und Cleene starrte. Sie starrte so intensiv, dass sie erst im Sturz bemerkte, dass der Boden unter ihnen nachgegeben hatte. Dann bemerkte sie für eine kurze Zeit nichts mehr.

Als sie aufwachte, hörte sie zuerst das Brummen in ihrem Schädel, dann ein lautes Stöhnen neben sich und als letztes ein lautes Brummen, das nicht aus ihrem Schädel stammte.

Sie begann sich aufzurichten, was ihr überraschend schwer fiel. Zuerst dachte sie, sie hätte sich schwere Verletzungen zugezogen oder dass ein paar Steine oder Erdklumpen ihre Bewegungen behinderten. Dann stellte sie jedoch fest, dass sie festklebte.

Sie blickte nach oben. In der Decke über ihnen befand sich ein vielleicht sechs Schritt großes Loch.

„Gut, dass wir getestet haben. Sonst hätten wir wohlmöglich da oben einen Pylon hingestellt. Au!“

„Schön, dass du das ganze so positiv siehst. Irgendwas gebrochen?“

„Nee. Erstaunlich weich gelandet. Was ist das?“ Fidster drückte mit einem Finger in die Masse unter sich und hielt sich die Hand anschließend vor die Nase. „Riecht wie Wachs. Klebt auch wie Wachs.“

„Hier riecht es überall nach Wachs. Aber wer kleidet ‘ne ganze Höhle mit Wachs aus?“

„Ein verrückter Imker?“

„Dann muss der aber viele Völker haben.“

„Meine Eltern beschäftigen einen, der wohnt in einem Haus, das nur aus Stöcken besteht.“

„Wenn sie es mit richtigen Stämmen gebaut hätten, wäre es vermutlich weniger zugig gewesen.“

„Was?“

„Wichtiger ist doch jetzt, wie wir hier rauskommen.“

„Durch unseren Eingang auf jeden Fall nicht.“ Sie warfen beide noch einmal einen Blick in die Höhe. Selbst wenn sie einen Turm aus drei Personen hätten bilden können, wären sie noch nicht bis zur Decke gelangt.

„Wenn die Wände tatsächlich aus Wachs bestehen, könnten wir vielleicht an ihnen hochklettern.“

„Möchtest du kopfüber nur von Kleber gehalten an einer aufgebrochenen Decke hängen?“

„Vermutlich nicht. Obwohl ich mal einen fahrenden Händler getroffen habe, der behauptete, das wäre mit seinem Spezialkleber möglich. Ich erinnere mich noch daran, wie er mir mit seiner singenden Säge den Hintern versohlt hat, als ich mir eine Dose von ihm ausleihen wollte.“

„Und das hilft uns jetzt wie weiter?“

„Sei doch nicht immer gleich so negativ. Und um zum Thema zurückzukommen: Wenn unser Imkerfreund tatsächlich hier den ganzen Raum ausgekleidet hat, muss er auch irgendwie hereingekommen sein. Also wird es doch wohl auch einen Eingang geben.“ Er befreite seinen Rucksack aus dem Wachs und zog seine Nachtsichtbrille hervor. Eigentlich war „Brille“ ein zu kleines Wort für das, was er sich über den Kopf zog. Tatsächlich waren da zwei Gläser vor seinen Augen, sie wurden jedoch nicht mit Bügeln hinter den Ohren festgehalten, sondern mit einem Gurt über und um den Kopf herum. In der Mitte befand sich eine Reihe von Kästen, die ihm als Irokese aus Metall ein ziemlich lächerliches Profil verliehen. Er musste noch die Linse und die Schalltrichter im vordersten Kasten ausrichten, damit die inverse Laterna Magica und das Echolot auch nach vorne zeigten. Dann schaltete er es ein.

Nachdem er sich umgesehen hatte wandte er seinen Blick Cleene zu, die sich irritiert mit den Fingern in den Ohren bohrte.

„Schalt das dumme Ding aus“, sagte sie bevor Fidster noch ein Wort hervorbringen konnte.

„Es kann einfach nicht sein, dass du das hörst“, grummelte er, legte aber trotzdem den Schalter um. „Falls es dich interessieren sollte: Der Imker ist seinem Thema treu geblieben.“ Fidster deutete auf Wände und wartete auf eine Reaktion. Schließlich sah sich Cleene gezwungen, entgegen ihrem Wunsch nachzufragen. „Und was soll das bedeuten?“

„Waben. Es ist alles in einem Wabenmuster, soweit es möglich ist. Und dahinten ist ein Ausgang.“

„Dann sollten wir uns wohl aufmachen und herausfinden, wie wir wieder nach oben kommen.“

Sie erhoben sich, überprüften ihre Ausrüstungen und versuchten den Staub von ihrer Kleidung zu schlagen. Beide schwiegen genervt, als sie damit ihre Hände nur noch klebriger machten. Während Cleene ebenfalls ihre Nachtsichtbrille hervorkramte sammelte Fidster den Massetester ein, dessen Sicherung beim Sturz dafür gesorgt hatte, dass er sich abschaltete. Aktiviertes Nullexistium neigte dazu, explosiv auf Erschütterungen zu reagieren.

Die Umgebung, in der sich die beiden Pylonisten befanden, war ihnen zwar nicht vertraut, aber es war auch nicht das erste Mal, dass sie sich in einem dunklen Gangsystem befanden. Fidsters letzte Erfahrung hatte ihn ohne Ausrüstung aus einem Geheimgang entkommen lassen. Diesmal waren sie zu zweit und gut ausgerüstet. Nahezu gleichzeitig zogen sie ihre Kurzschwerter aus den Beinscheiden. Cleene entnahm ihrer linken Armtasche den Taschenspiegel mit der Teleskopstange und der hilfreichen Aufschrift: „Gegenstände und Kreaturen im Spiegel sind näher als es erscheint“. Die ÖfAFödaBI hatte sich in diesem Fall mit ihrer Standardisierung selbst übertroffen.

Während sie zum Eingang gingen, schalteten sie ihre Nachtsichtbrillen ein. Außerdem gaben sie sich gegenseitig Zeichen, mit denen sie andeuteten, dass sie sich von jetzt an nur noch mit Gebärden verständigen würden (Zeigefinger und Daumen der linken Hand berühren sich und fahren einmal über den Mund, gefolgt von einem Drehbewegung, die ein Abschließen andeutete und einem schnellen Wurf des imaginären Schlüssels über die Schulter). Jeder Pylonist war in der speziellen Gebärdensprache der ÖfAFödaBI ausgebildet, die viele nützliche Zeichen für die Verständigung in lauten Umgebungen enthielt, sich aber auch gut für militärische Geheimmissionen eignete, selbst wenn man in solchen Fällen das Zeichen für „Dies entspricht nicht der Vorschrift ÖfAFödaBI-Zet-16 (Verhalten im Falle von Papierknappheit) Paragraph 1076“ nur selten gebärdet. Die Beschreibung der ÖfAFödaBI sieht vor, dass man die Hände über dem Kopf mit den Zeigefingern verhakt und mit nach vorne gestreckten Handflächen dreieinhalb Mal einen Spann hoch und runter führt. Gleichzeitig wird dabei versucht mit der Zunge die Nasenspitze zu berühren. Jeder Außendienstler der ÖfAFödaBI kennt dieses Zeichen, denn es wird jeder Abschlussprüfung abgefragt.

Mit Hilfe des Spiegels warf Cleene zuerst einen Blick aus dem Eingang heraus, konnte jedoch nichts entdecken. Sie gab das Zeichen für „Schlepp den Aktenordner des Typs 3 bitte hinter mir her“, von dem Fidster jedoch wusste, dass sie es immer mit „Folge mir vorsichtig“ verwechselte (der Unterschied war marginal und bestand im Winkel des Daumens der winkenden Hand).

Sie bewegten sich langsam einen Gang nach dem anderen entlang und bemerkten dabei, dass sie dem Brummen, welches Cleene bereits gleich nach ihrem Sturz bemerkt hatte, immer näher kamen.

„Was gibt es heute in der Kantine zu essen?“ signalisierte Fidster seiner Kollegin.

„Was?“ winkte sie ihm zurück. Dieses Zeichen, welches daraus bestand, sich den linken Finger ins linke Ohr zu stecken, war vermutlich dasjenige, welches beide am besten konnten. Fidster ging die Bewegungen, die er zuvor ausgeführt hatte, noch einmal langsamer durch und verbesserte die Höhe der ausgestreckten Hand im letzten Drittel: „Was ist das für ein Brummen?“

Cleene antwortete mit „Idiot!“

„Was?“ Cleene blickte den zornigen Fidster an und dachte kurz nach.

„Weiß ich nicht?“ signalisierte sie schließlich. Ein häufiger Fehler, da der Unterschied zwischen den beiden Zeichen nur darin bestand, dass das erste mit der linken, das zweite aber mit der rechten Hand ausgeführt wurde.

Statt auf eine erneute Erwiderung zu warten, beugte sich Cleene vor und blickte ein weiteres Mal mit dem Spiegel um die Ecke. Diesmal konnte sie tatsächlich etwas entdecken und es war kein Imker. Sie überlegte, wie sie das gesehene in Zeichen verpacken konnte und begann mit dem Gebärden für „Feindkontakt in wenigen Sekunden“ gefolgt von „Unbestimmte Invertebrae befinden sich in der Küche.“

Fidster machte sich nicht einmal die Mühe, ein „Was?“ zu gebärden, sondern griff gleich nach dem Spiegel.

Als er sich selbst von der anstehenden Bedrohung überzeugt hatte, drehte er sich um und vollführte drei schnelle Zeichenfolge kurz hintereinander: „Zwei Riesenhornissen um die linke Enke voraus“, „Ich hätte nie gedacht, dass ich dieses ÖfAFödaBI-Zeichen jemals verwenden würde“, und „Du hättest wirklich besser deine Zeichen lernen sollen.“ Beim letzten grinste er, denn es war neben „Was?“ ihre am häufigsten verwendete Gebärde.

Cleenes Augenrollen machte eigentlich aus „Was machen wir jetzt?“ ein „Es wird schwierig bei diesem Meteoritensturm einen Pylonen aufzustellen“. Allerdings war dies wiederum ein Zeichen, dass Fidster nicht kannte, weswegen er das eigentlich intendierte verstand.

Mit ein paar weiteren Gesten schlug er vor, die Kreuzung zu überqueren, in der Hoffnung, dass die Hornissen sie nicht sehen würden. Und selbst wenn, waren sie gute zwanzig Schritte von der Kreuzung entfernt, so dass sie ihnen immer noch entkommen konnten. Über das Wohin machte er sich dabei keine Gedanken. Das Wovor genügte als Angabe für seinen Fluchtvektor.

Da Cleene gerade keine bessere Idee hatte, zog sie nur die Schultern hoch (eigentlich: „In zwei Monaten ist die nächste Revision fällig“ aber Fidster gelang es, das zu ignorieren). Ohne weitere Verzögerungen sprinteten sie über die Kreuzung. Als sie dabei einen Blick zur Seite warfen, mussten sie zu ihrer Bestürzung feststellen, dass die Aufschrift auf dem Spiegel nicht log.

Sie rannten, bis sie bemerkten, dass inzwischen nicht mehr nur zwei sondern mindestens 10 Hornissen hinter ihnen herflogen und Fidster stolperte.

 

„Ich kann kaum glauben, dass ihr da wieder rausgekommen seid.“

„Ich auch nicht. Wenn man es so erzählt, klingt es schon ziemlich unglaublich.“

„Und ich dachte, wir hätten einfach nur Pech, als ich mich nach dem Sturz nicht gleich wieder aus dem Wachs befreien konnte.“

„Als dann auch noch dein Rucksack über deinen Kopf rutschte und du fast eine Rolle vorwärts gemacht hast, da habe ich keinen Pfifferling mehr auf dein Leben gegeben.“

„Ich auch nicht. Ich war ein wenig überrascht, dass du so lange da geblieben bist, um das überhaupt zu sehen.“

„Was denkst du von mir?“

„Dass du dich verpisst, um dein eigenes Leben zu retten.“

„Ah, ja, da denkst du wohl richtig. Aber zu meiner Verteidigung muss ich einwenden, dass es einfach zu komisch aussah.“

„Zu deiner Verteidigung?“

„Nicht ablenken, Fidster. Ihr spannt uns schon lange genug auf die Folter mit eurem dauernden ‚das ist unglaublich‘ und ‚das glaubt uns sowieso keiner‘. Als Wissenschaftler kann ich die Glaubwürdigkeit eines Ereignisses erst beurteilen, wenn ich auch den Bericht gehört habe.“

„Ich möchte es auch gerne hören“, ließ sich Au leise in der kurzen Pause vernehmen.

„Eigentlich gibt es da kaum etwas zu erzählen. Fidster hatte wie immer seinen Rucksack nicht ordentlich zu gemacht.“

„Hey!“

„Und da musste ja alles rausfallen.“

„Ich habe aber alles wieder eingesammelt“, warf Fidster schnell ein, als er den scheltenden Blick des Professors sah. Für jedes verlorene oder beschädigte Teil musste er einen einseitigen Bericht einreichen und ein dreiseitiges Wiederbeschaffungsformular ausfüllen.

„Wusstet ihr, dass jeder Wabengang bei den Hornissen aus lauter Einzelwaben besteht, die man durchbrochen hat?“

„Das klingt nicht besonders einleuchtend, Cleene. Wie kommst du darauf?“

„Wie soll man sich sonst erklären, dass der Ordnungsmeißel einfach einen der Durchgänge zugemeißelt hat?“

„Hat er? Das ist interessant. Aber wie seid ihr darauf gekommen, das zu versuchen.“

„Sind wir nicht. Als er hinuntergefallen ist, blieb der Sicherungshebel an der Schnüre des Rucksacks hängen und der Schalter fiel auf den Entfernungsmesser.“

„Wie konnte er dabei aus dem Kasten fallen?“

„Wissen sie, was der Scheißkasten wiegt?“

„Ja ich weiß, aber das entschuldigt nicht diese Nachlässigkeit. Viel wichtiger ist jedoch, warum der Meißel nicht dich getroffen hat.“

„Das ist einfach: als ich das rote Licht der Aktivierungsleuchte sah, habe ich mich so gut es ging zur Seite gedreht. Und bevor sie fragen: Dabei habe ich den Meißel mit mir herumgerissen, so dass er hinter uns zeigte. Und dann hat er seine Arbeit verrichtet.“

„Was bedeutet?“

„Er hat den Durchgang geschlossen.“

„Da habt ihr aber großes Glück gehabt.“

„Wir schon, die vorderste Hornisse nicht.“

„Ist sie etwa in den Strahl geraten?“

„Nein, obwohl ich das gerne mal gesehen hätte. Schließlich hört man immer nur, dass man den Meißel nicht auf etwas Lebendes richten soll und erfährt nie, was denn dann tatsächlich geschieht.“

„Ihr wollt mich wahnsinnig machen, oder? Muss man euch denn alles aus der Nase ziehen? Ist das eure Rache für den Strahl?“

„Was meinen sie, Herr Professor?“

„Halten sie uns für so kleinlich? Was glaubst du Cleene?“

„Wenn ja, hat er vermutlich Recht.“

„Ich will endlich wissen, was mit der Hornisse geschehen ist?“

„Und ich möchte wissen, was geschieht, wenn man mit einem Ordnungsmeißel auf einen Menschen zielt.“

„Bitte, Frau Cleene, ich würde es auch gerne wissen.“

„Was dann passiert?“

„Nein, was mit der Hornisse passiert ist.“

„Ach das.“

„Lass mich, ist schließlich mein Meißel.“ Cleene grinste in Richtung des Professors und ließ Fidster den Vortritt, wohlwissend, dass er seine Erzählung noch ein wenig ausschmücken würde.

„Was soll ich sagen. Wir beide, Cleene und ich, waren ja zu diesem Zeitpunkt bereits jeweils im Wachs kleben geblieben. Und wenn man sich Kerzen so ankuckt, dann erhält man zwar den Eindruck, das Wachs recht hart werden kann, aber doch nicht, dass man sich daran verletzen könnte. Außer natürlich, es ist sehr heiß. Aber das ist etwas ganz anderes. Und wenn man noch bedenkt, dass wir immer angenommen haben, dass alles, was vom Ordnungsmeißel wieder zusammengesetzt wird in seiner strukturellen Integrität niemals wieder an den alten Zustand heranreicht, schreibt man …“

„Fidster, bitte, habe ein Einsehen mit einem armen, alten, neugierigen Mann.“

„Es hat sie durchgeschnitten.“

„Es hat sie was?“

„Durchgeschnitten. Der Vorderteil, Kopf und ein Teil das Körpers, plumpsten auf unserer Seite herunter, der Rest auf der anderen.“ Fidster lächelte ein morbides Lächeln, fügte aber nach kurzem Zögern hinzu: „So sind wir entkommen.“

„Man hätte wohl dabei sein müssen, um das zu glauben.“

„Wie wir ja bereits gesagt haben.“

„Wenn das wahr ist, was ihr da beschreibt, dann wäre das allemal einen Bericht an die Akademie wert. Am besten bringt ihr mich zu diesem Bau, damit ich mir das ganze mal ansehen kann.“

„Tut uns leid, Professor, aber von dem ist leider nicht mehr viel übrig.“

„Was soll das jetzt wieder bedeuten.“

„Als ich sagte, dass wir so entkommen sind, habe ich das ganze etwas verkürzt dargestellt.“

„Fidster! Heraus mit der Sprache!“

„Wir sind noch ein paar mehr Hornissen begegnet und mussten ja schließlich auch noch an die Oberfläche gelangen.“

„Und da kam der Haupteingang natürlich nicht in Frage“, ergänzte Cleene. „Deswegen haben wir die beiden Meißel umfangreich eingesetzt.“

„Uns blieb ja auch keine Wahl.“

Der Professor schlug die Hände über dem Kopf zusammen und trommelte unruhig auf seinem Scheitel.

„Ich frage nur ungerne, und ich weiß, dass ich es bedauern werde. Aber meine Neugier und meine Position zwingen mich dazu: Warum hattet ihr keine Wahl?“

„Naja, als der Ordnungsmeißel heruntergefallen ist, hat der Schalter einen Wackler bekommen. Er ist immer wieder sporadisch an- und ausgegangen. Wenn wir ihn nicht eingesetzt hätten, dann hätten wir uns über kurz oder lang selbst gefangen gesetzt. Inzwischen ist seine Energiezelle jedoch erschöpft und es besteht keine Gefahr mehr.“

„Was ein Glück ist, denn sonst wären uns sicher ein paar hässliche Dinge auf dem Weg zurück passiert.“

Der Professor zog seine Hände vors Gesicht und versuchte nicht zu explodieren. Es gelang ihm nicht.

Seine drei Reisegefährten hatten zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits den Wagen verlassen, und entgingen auf diese Weise den Wurfgeschossen.

 

Au war noch Wochen danach am Überlegen, ob sie ihr Tarot hätte erwähnen sollen. Vielleicht hätte sie sich damit ein wenig mehr Respekt bei den beiden Pylonisten erhascht. Da sie die Hornissenkarte jedoch nicht wiederfinden konnte, verzichtete sie darauf, das Blatt jenes Tages jemals zu erwähnen.

 

 

Vorgegebene Tropen:

x http://tvtropes.org/pmwiki/pmwiki.php/Main/LethalHarmlessPowers
x http://tvtropes.org/pmwiki/pmwiki.php/Main/TarotTroubles
x http://tvtropes.org/pmwiki/pmwiki.php/Main/ParodicTableOfTheElements
x http://tvtropes.org/pmwiki/pmwiki.php/Main/HornetHole
x http://tvtropes.org/pmwiki/pmwiki.php/Main/CloserThanTheyAppear

 

Published inErstes Buch

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