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8. Kapitel

Im Gegensatzu zu Jobtreue überleben ins Gesicht hängende Haare verpasste Busse.

 

Simca war inzwischen sechs Tage beim Team und Fidster war heute Morgen zum ersten Mal ohne Muskelkater aufgewacht. Er hatte zwar am Vorabend erneut nur noch in sein Bett kriechen können, aber seine Lungen hatten ihm nicht mehr den Eindruck vermitteln wollen, dass sie gerne den Dienst am Körper kündigen wollten, um aus seinem Mund zu kriechen und sich eine bessere Arbeitsstelle zu suchen.

Vielleicht lag es daran, dass der Hauptpylonist etwas vorsichtiger geworden war. Seit gestern arbeiteten sie in einer Region, die der Professor Groß Walding nannte. Au bezeichnete sie als den blutigsten Flecken Erde, den es in allen Reichen gab. Simca sprach nur von Mordshausen.

Fidster kannte natürlich grob die Geschichte dieses Landes. Einst war es wohl tatsächlich ein einziger großer Wald gewesen, bis ein sommerlicher Bürgerkrieg zu gewaltigen Waldbränden geführt hatte. Er konnte sich nicht erinnern, wann dies gewesen oder ob es tatsächlich nur einmal geschehen war, aber jetzt bestand die Landschaft überwiegend aus Heideflächen, ein paar Fichtenwäldern und einigen überaus feuerfesten Hügelburgen unter dichten Heidedecken, Straßen, in die die Heide hineinwucherte und Ruinen, die mit Heide überwachsen waren.

Es sah zur Heideblüte sicher recht hübsch aus, aber auf Dauer schlug die Monotonie aufs Gemüt.

„Man glaubt kaum, dass hier einmal ein Lager gewesen ist.“

„Hier?“

„Genau an dieser Stelle.“

„Woher wissen sie das?“

„Historisch-geographische Projektion“, antwortete der Hauptpylonist und deutete auf seine Augen, die zur Bestätigung zu blinken schienen.

„Ah. Möchte ich wissen, wo wir gerade stehen?“

„Sei kein größeres Weichei, als du sowieso schon bist. Hier war nur das Eingangstor. Ich kann die Schrift darüber nicht lesen, aber wenn ich mich recht erinnere war es ein Spruch wie ‚Leben durch Hingabe‘ oder etwas ähnlich Makabres. Da drüben standen die Verbrennungsöfen.“

„Ich nehme an, wir sprechen hier von Anlagen, in denen die Leichen beseitigt wurden.“

„Wie kommst du denn darauf?“

„Sie sprachen von Lager und Verbrennungsöfen, da dachte ich … Ach, nicht so wichtig.“

„Du dachtest, dass man die Toten dort verbrannt hätte? Nein, nein, nein. Die Verbrennungsöfen waren für die Schlingpflanzen, die man hier regelmäßig abholzen musste, damit sie nicht das ganze Lager überwucherten.“

Mehr als ein „Urgh“ brachte Fidster daraufhin nicht heraus. Schlingpflanzen hatten ihren Namen erhalten, weil sie lebende Wesen einfach herunterschlangen und in einem langsamen, schmerzhaften Prozess verdauten. Wenn sie so groß wurden, dass man sie abholzen musste, waren sie gut gefüttert worden. Es dauerte eine Weile, bis ihm wieder danach zu Mute war, etwas zu sagen, was Simca jedoch nicht davon abhielt, weitere Einzelheiten der Geschichte dieses Landes preis zu geben.

„Den Hügel hier hätten wir gut verwenden können“, warf er zum Beispiel ein, während er auf eine Mulde zeigte, „aber ein Massengrab für sich verzehrende Zombies zu errichten war vermutlich keine so gute Idee.“

Oder der Kommentar zu dem gewaltigen Baumstumpf, den man unter der Heide nur erkennen konnte, weil sie an dieser Stelle mit gelben Blättern wuchs: „In Rotandul sitzen einige Hohlköpfe, die ihren linken Arm geben würden, um ein Stück von einem Weltenbaum abzwacken zu können. Wahrscheinlich würde es jedoch nicht dabei bleiben, denn die Grünen Garden haben damals nicht nur alle gefällt, sondern auch noch gleich jeden mit einem Fluch belegt. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ihr Anführer am Ende über einen dieser Stümpfe gestolpert ist. Das war natürlich bevor die ‚Alternative für Walding‘ an die Regierung kam und mit ihrer Blutnacht die Weltenbüsche der Garden abbrannte.“

Auch seine Äußerungen zum Bauernkrieg und der kurzen Diktatur des Agrarischen Regimes waren wenig erbaulich, waren Fidster die Foltermethode des Düngens und die Hinrichtungsform des Aussäens noch nicht vertraut gewesen. Ein Umstand, den er sich später immer wieder zurückwünschte.

Erst als sie mitten in einer weiten Heidefläche eine einsame Hütte sahen, verfielen der Motor des Rollstuhls und Simcas Mund in Stille.

„Ich gebe zu, dass mich ein Haus in dieser Gegend ein wenig überrascht.“

„Weil es nicht niedergebrannt, niedergewalzt, zerstückelt oder in eine andere Dimension versetzt wurde?“

„Red‘ keinen Unsinn. Es taucht nicht in meiner Visualisierung auf.“

„Und es steht auf dem einzigen Hügel in der ganzen Umgebung.“

„Papperlapapp. Das spielt keine Rolle.“

„Spricht etwas dagegen, einmal anzuklopfen?“

„In diesem Land spricht alles dagegen, überhaupt eine Person auch nur zur Kenntnis zu nehmen“, sagte er, startete aber augenblicklich seinen Rollstuhl.

Sie waren nur noch zwanzig Schritte von dem Zaun entfernt, der das Haus in einem großen Kreis umschloss, als sich über die Latten der Kopf eines Ungetüms erhob, dass man nur als Hund identifizieren konnte, weil die Laute, die sich seiner Kehle entrangen, entfernt an ein Bellen erinnerten. Dass sie seinen Kopf überhaupt sehen konnte, verdeutlichte sehr gründlich, wie groß dieses Tier sein musste. Die Latten, die sich in der Mittagssonne kaum gegen den Hügel abgehoben hatten, hätte Fidster nur mit sehr viel Mühe übersteigen können, wenn er sich auf den Rollstuhl gestellt hätte. Wenn das Monstrum nicht auf einem Laufgang stand, würde neben ihm vermutlich jedes Schlachtross wie eine Ziege aussehen. Aus dieser Entfernung konnte man auch erkennen, wie der Geifer aus den schwarzen Lefzen troff, was aber bei den Flammen, die aus seinen Nüstern schlugen, kaum auffiel. Das Feuer hatte darüber hinaus auch den Effekt, dass man sich nicht sicher sein konnte, ob die Augen nur rot leuchteten, weil sie die Bewegungen vor ihnen widerspiegelten, oder ob da noch etwas anderes in ihnen brannte.

„Ein Höllenhund? Ich dachte, die sind illegal.“

„In diesem Land? Denk nach, bevor du den Mund aufmachst.“

In diesem Moment erklang ein Pfeifton, der Fidster an eine Medusa denken ließ. Nicht, weil er wusste, wie eine Medusa klang. Nur wünschte er sich, dass seine Ohren versteinerten, damit er ihn nicht mehr hören musste.

Am Eingang des Hauses war eine Frau in einem schwarzen Kleid erschienen, dass gut zu der Farbe des Hundes passte und sich angenehm von der Farbe der Heide sowie des Hauses abhob. Der Hund fletschte noch ein letztes Mal in Richtung der beiden Männer und trabte gemächlich zu seiner Herrin. Er nahm neben ihr Platz und die Frau tätschelte seinen Kopf, womit sie bewies, dass sie in der Lage war, auf den Spitzen zu tanzen.

„Eine hohe Beamtin“, flüsterte Simca Fidster zu und deute mit einer Kinnbewegung in Richtung der Frau. „Sie trägt ein Auge verborgen.“ Und tatsächlich hingen ihre Haare in einer dicken Matte über ihrem rechten Auge.

„Das zählt als Auge verborgen? Und was macht eine hohe Beamtin hier draußen?“

„Was glaubst du, wie sie ihre Augen verbergen? Mit einer Augenklappe?“

„Der Gedanke wäre mir gekommen, wenn ich davon gewusst hätte. Aber warum verbergen sie ihr Auge? Und woher wissen sie das?“

„Warum weißt du es nicht?“

Bevor Fidster etwas antworten konnte, meldete sich die Hundebesitzerin zu Wort.

„Was wollt ihr hier draußen? Kommt ihr vom Obersten Sowjet, oder ist der inzwischen abgelöst worden?“

„Oberster Sowjet? Ist das hier eine Räterepublik?“ fragte Fidster leise. Simca zog eine Schulter hoch, eine Bewegung, die ihm nicht leicht zu fallen schien.

„Nein, wir kommen aus Rotandul. Wir sind Hauptamtliche Pylonen-Platzsucher und Pyloneninstallateure. Wir sind auf der Durchreise und kommen hier nur zufällig vorbei.“

„So, aus Rotandul. Könnt ihr euch ausweisen?“

Der Hauptpylonist drückte einen Knopf und eine Stange fuhr hinter ihm aus dem Rollstuhl, von der sich wenige Sekunden später das fast zwei Fuß lange Ausweißpergament entrollte. Der jüngere benötigte etwas länger, um aus dem Schriftrollenfutteral sein eigenes, etwas weniger schön Bemaltes, herauszukramen. Die Frau ging mit kurzen, stöckelnden Schritten zum Zaun und erhob sich langsam in die Luft. Dann zog sie eine kleine Lupe aus ihrer Weste, und hielt sie vor ihr Auge. Es bedurfte wenig Fantasie, um zu dem Schluss zu gelangen, dass sie mit einer normalen Lupe kaum etwas auf 20 Schritte von der Schrift hätte erkennen können, weswegen es sich vermutlich um ein Lupe der Wahrheit handelte, was Fidster noch ein wenig mehr beeindruckte als ihr Schwebezauber. Natürlich hatten das windschiefe Haus in einer einsamen Gegend und der Höllenhund bereits die nötigen Hinweise gegeben, aber die Lupe belegte eindeutig, dass es sich bei der Frau um eine erfahrene Hexe handeln musste. Nur die Anzugsweste und die Krawatte, die an ihrem Hemdkragen zu sehen waren, störten das Bild ein wenig.

„Scheint alles in Ordnung zu sein. Und wie kann ich euch helfen?“

„Indem sie uns sagen, wo wir einen Pylonen aufstellen können“, platzte Fidster heraus, bereute seinen Eifer jedoch sofort, als sich die Skeletthand hob.

„Was mein voreiliger Kollege sagen will, ist, dass wir uns auf den Weg machen werden, um ihnen nicht weiter zur Last zu fallen.“

„Ich sehe. Aber wollen sie stattdessen nicht auf einen kleinen Imbiss hereinkommen?“

„Eigentlich haben wir keine Zeit für einen Aufenthalt.“

„Tun sie doch einer alten, einsamen Frau den Gefallen.“

„Es tut uns leid, aber wir müssen noch zwei Pylonen verlegen.“

„Ich bestehe darauf.“ Zur Untermauerung gab der Hund ein für seine Verhältnisse leises Knurren von sich.

„Dann nehmen wir die Einladung natürlich gerne an.“

Während sich wie von Geisterhand vor ihnen ein Tor im Zaun öffnete, begann Simca loszurollen. Er zog Fidster zu sich herunter, indem er ihn mit der Metallhand am Ohr fasste. „Hör mir gut zu, und ich weiß, dass das viel verlangt ist: Du wirst keinen Ton sagen und wenn etwas aus meinem Stuhl herausfährt, bewegst du dich vorsichtig zum Eingang zurück.“ Fidster verkniff sich ein Nicken, weil er sein Ohr gerne behalten wollte, Simca schien aber auch keine Bestätigung zu erwarten, weil er ihn schon nicht mehr ansah, als er ihn losließ.

Jede Tür, die sie durchschritten, schloss sich wieder hinter ihnen. Sobald sie den engen Flur durchquert hatten, was mit dem Rollstuhl nicht ohne Probleme möglich gewesen war, erreichten sie einen kleinen Raum, in dem bereits ein gedeckter Tisch auf sie wartete. Trotz der Auswahl an Wurst, Käse und Marmelade sowie einem auffällig massiven Toaster, war der Tisch jedoch nicht das erste, was ihnen ins Augen fiel. Stattdessen ließen sie die Ausstattung des Raums, die Bilder und auch die Statuen innehalten. Was vor allem ihre Aufmerksamkeit beanspruchte, war die einseitige Ausrichtung des gesamten Raums. Die Bilder zeigten zwei oder mehrere Personen unterschiedlicher Geschlechter und Rassen in den verschiedensten eindeutigen Positionen, die Statuen folgten entweder dem Motiv oder stellten schlicht Körperteile dar, die ohne Bezug zu einem Körper irgendwie aufdringlich wirkten. Sogar das Geschirr würde jede Berührung in einen wenigstens oberflächlich sexuellen Akt verwandeln. Fidster erinnerte sich an einige hüfthohe, pilzförmige Statuen, die er im Flur aus dem Weg geräumt hatte, und wischte sich unbewusst seine schweißnassen Hände an seiner staubigen Hose.

„Es ist so freundlich, dass sie mich besuchen. Aber wie unhöflich von mir. Ich kenne bereits ihre Namen, habe mich aber selbst noch nicht vorgestellt. Ich bin Hite Tuutsh, ehemalige Finanzhexe von Groß Walding.“

„Sehr erfreut, Frau Tuutsh. Wir sind ihnen sehr dankbar, dass sie uns eingeladen haben.“

Fidster riss seinen Blick von der Einrichtung und versuchte stattdessen den Höllenhund zu entdecken. Es war immer gut, wenn man wusste, zu welchem Ort man den größten Abstand halten musste.

„Setzen sie sich doch, Hauptpylonist Rumas, Herr Fidster. Es ist alles angerichtet. Es ist so schön, endlich mal wieder Gesellschaft zu haben. Man fühlt sich ja nicht mehr als Mensch, wenn man so selten mit jemandem spricht, wie ich.“

Simca rollte an den Tisch, wo bereits ein Platz ohne Stuhl für ihn bereit stand. Die Hausherrin stand an einem zweiten Platz, was den dritten Teller für Fidster übrig ließ, dem nicht entging, wie viel näher sein Stuhl neben dem von Frau Tuutsh stand als der Simcas. Wenn er es sich genau betrachtete, würde es schwierig werden, nicht beständig die Beine aneinander zu reiben. Er verkniff sich das Seufzen als er als letzter Platz nahm.

Sofort befand sich seine Rechte im sanften, warmen Griff der Frau, die ihm ein schnelles wissendes Lächeln zuwarf.

Auf einen Wink ihrer freien Hand erhob sich die Kanne vom Tisch. „Etwas Kaffee?“

„Ja bitte.“

Eingedenk der Warnung seines Vorgesetzten nickte Fidster nur.

Als nächstes folgte der Kuchen, von dem sich die Gastgeberin nur ein sehr kleines Stück auf den Teller schwebte, es jedoch im Weiteren nicht anrührte.

„Wenn ich so forsch sein darf, Frau Tuutsh, aber was verschlägt eine offensichtlich so gebildete und vornehme Dame in die Einsamkeit der Heide?“

Die Finanzhexe winkte geziert mit der Hand ab, fügte aber sofort hinzu. „Sie schmeicheln mir, Herr Hauptpylonist. Aber selbstverständlich haben sie Recht. Selbstverständlich ist dies nicht meine natürliche Umgebung. Aber die Umstände haben mich hierher verschlagen.“

„Jetzt haben sie aber meine Neugier geweckt, Frau Tuutsh. Welche Umstände können einer Frau wie ihnen wiederfahren sein, dass sie ihnen nicht standhalten konnten.“

„Ich habe den Bus verpasst.“

Die beiden Männer hielten in der Bewegung inne, der eine mit einer Tasse vorm Mund, der andere beim Stechen in das Kuchenstück. Ihre Gastgeberin steckte unterdessen unberührt zwei Scheiben Toast in den Toaster.

„Ein Bus?“

„Ja, ein Bus.“

„Frau Tuutsh, ich flehe sie an, verheimlichen sie uns nicht, was es mit diesem Bus auf sich hat.“

„Ich erzähle es ihnen nur zu gerne, auch wenn es mir ein wenig peinlich ist.“

In diesem Moment ging Fidster auf, warum er sich die ganze Zeit über so unwohl fühlte. Es waren nicht die vielen Sexobjekte um ihn herum, oder die Anwesenheit einer offensichtlich geistig in einer Parallelwelt agierenden Finanzhexe. Noch war es der Umstand, dass er den Höllenhund immer noch nicht wieder ausfindig hatte machen können oder dass die Hand, die seine hielt damit begonnen hatte, langsame streichelnde und pressende Bewegungen auszuführen. Nein, es war der übertrieben höfliche Umgangston seiner beiden Tischnachbarn. Vor allem das ungewohnte Verhalten des Hauptpylonisten, den er bisher nur als arroganten, unfreundlichen und vor allem erniedrigenden Gesprächspartner kennengelernt hatte, verwirrte ihn.

„Der Bus, um den es ging, sollte mich zur Arbeit bringe. Es ist nicht zu übersehen, dass viele Straßen dieses Landes nicht mehr in einem Zustand sind, dass man sie ohne weiteres Befahren kann. Daher war der Transitverkehr der Überlandschwebebusse lange Zeit das verlässlichste Mittel, um von einer Stadt in die nächste zu gelangen. Inzwischen hat der Oberste Sowjet diesen Dienst allerdings eingestellt. Damals jedoch nutzte ich jeden Tag die Busse der Linie 69, um von Gehölzen nach Baumschulingen zu gelangen. Aber an jenem schicksalhaften Freitag verpasste ich den 69er, der wie immer pünktlich um sieben Uhr einundvierzig abfuhr. Ich sehe noch genau, wie sich das magische Wabern unter dem Bus aus der Haltebucht löste und in der Ferne verschwand. Ich winkte ihm noch nach, in der falschen Hoffnung, dass der Fahrer anhalten würde, dass er mich noch einsteigen lassen würde. Aber natürlich nahm er keine Rücksicht auf mich. Warum sollte er auch? Er hätte seine eigene Anstellung gefährdet, denn es war ihnen strengstens verboten, außerhalb der Buchten zu halten. Eine vernünftige Anweisung, die ich niemals in Frage gestellt habe, außer an jenem Tag.“

Hite schwieg, was Simca dazu verleitete, nachzufragen.

„Aber sicherlich haben sie doch den nächsten Bus genommen. Und einer so verdienten Frau wie ihnen hätte eine Verspätung doch wohl kaum zur Last gelegt werden können.“

„Natürlich nicht. Ich hätte vielleicht einen Rüffel erhalten. Vielleicht hätte ich auf einen Teil meines Gehaltes verzichten müssen. Aber gerade an jenem Tag fand die Jahresendabrechnung des Sowjethaushaltes statt. Was viele außerhalb des Finanzministeriums nicht wissen, ist, dass dies eine sehr heikle, diffizile Angelegenheit ist, da wir über einen thaumischen Finanzaggregator die Abrechnungen der äußeren Bezirke einfordern. Ich weiß nicht, wer diese Maschine gebaut hat. Er ist jedoch von einer geringeren Menge an Daten ausgegangen, weswegen eine der wichtigsten Aufgaben an diesem Tag immer aus dem bereinigen des Aggregators bestand. Zusätzlich kam an jenem schicksalhaften Tag noch hinzu, dass der Vorstand des Sowjets einen Buchprüfer vorbeigeschickt hatte, der weiteres Personal beschäftigte. Wäre ich an meinem Arbeitsplatz gewesen, ich hätte mich um jenes Wiesel kümmern und gemeinsam hätten wir den Aggregator mit genügend Beamten besetzen können. So geschah jedoch das, was alle immer befürchtet, aber niemand auszusprechen gewagt hatte.“

Die Worte der Finanzhexe waren beständig eindringlicher geworden, was Fidster vor allem an dem Klammergriff um seine Hand bemerkte.

„Nein!“ stieß Simca hervor.

„Doch! Der thaumische Finanzaggregator explodierte und zerstörte die Hälfte der Finanzwelt Groß Waldings. Natürlich suchte man einen Schuldigen. Es hätte viele gegeben, denen man diese Katastrophe hätte anlasten können, aber es traf mich. Dabei habe ich immer treu meinen Dienst geleistet. Weder habe ich meinen Platz verlassen, als die Theokraten von Erikaholz ihre Exkommunikationen gegen die letzten Kaiser des kurzen Kaiserreichs aussprachen, noch habe ich aufgehört Groß Walding zu dienen, als die Theokraten von der Revolution der Grünen Waldinger hinweggefegt wurden. Ich habe der Adelsrepublik und dem Heidestaat gedient, genauso wie der Diktatur der zweiundvierzig Bürgermeister. Selbst die Reinigung während der Machtergreifung der Sklavendemokratie habe ich überstanden. Erst der Oberste Sowjet hat mich verstoßen.“

Die letzten Worte waren immer bitterer geworden und schließlich so voller Gift und Galle gewesen, dass Fidster einen Augenblick lang Angst bekam, seine Hand würde sich in der Säure, die diese Frau ausstrahlte, einfach auflösen.

Das Schweigen, das auf diese dramatische Offenbarung folgte, wurde von dem Klacken des Toasters unterbrochen, der zwei Scheiben dunkelbraunen Brots an die Decke schleuderte.

 

Als Fidster endlich das Haus verließ, konnte er kaum noch gerade gehen und es fiel ihm schwer, seine Beine zusammenzubekommen. Sobald ihm die Bedeutung der Einrichtung bewusst geworden war, hatte für ihn kein Zweifel mehr über den Preis dieses Kaffeekränzchens bestanden, noch dass er selbst ihn bezahlen würde.

Er konnte nicht behaupten, dass es unangenehm gewesen wäre. Im Gegenteil. Trotzdem würde er wohl niemandem jemals etwas von dem erzählen, was in diesem Hexenhaus geschehen war. Er hoffte nur, dass sein Vorgesetzter ebenfalls den Mund halten würde.

Simca empfing ihn ungehalten mit einem „ging es nicht schneller?“ Er schien sich jedoch nicht gelangweilt zu haben, denn Fidster konnte gerade noch beobachten, wie eine Leselampe im Rollstuhl verschwand, während die Metallhand das Buch verstaute. Der Jüngere war nicht sicher, was ihn in diesem Fall mehr überraschte: dass Sima las, oder dass seine Augen keinen Restlichtverstärker enthielten.

„Während du Spaß gehabt hast, habe ich den Pylonen aufgestellt, was alleine nicht so leicht war. Aber da dein Einsatz ebenfalls zum Erfolg dieser Angelegenheit beigetragen hat, will ich dir keinen Vorwurf daraus machen, dass du dich vor der schweren Arbeit gedrückt hast.“

Es war beinahe schon ein Lob, was Fidster das Rückgrat immerhin soweit stärkte, dass er sich fast wieder gerade aufrichten konnte. Wichtiger war jedoch, dass der alte Hauptpylonist zurückgekehrt war, dessen Intentionen sich nicht in Höflichkeiten verliefen.

Seltsamerweise konnte Fidster damit deutlich besser umgehen.

 

 

Verwendete Tropen

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Abgelehnte

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Published inErstes Buch

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